Jahrbuch 2010 „Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera“ Qualitätsverlust der Medien belastet die Demokratie

Die schweizerischen Medien befinden sich mitten in einem fundamentalen Transformationsprozess: Die Verschiebung der Mediennutzung zu einer Gratiskultur Online und Offline fördert zusammen mit der massiv verschlechterten finanziellen Situation eine Qualitätserosion in der grossen Tradition der schweizerischen Publizistik. Ein Wandel, der auch auf die Qualität demokratischer Auseinandersetzungen durchschlägt. Dies zeigt das erste Jahrbuch ‚Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera‘, das am 13.8.2010 in Bern der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Das vom fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft / Universität Zürich erstmals herausgegebene Jahrbuch 2010 ‚Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera‘ kommt zu einem insgesamt ernüchternden Befund:
Im einstigen ‚Presseland Schweiz‘ verlieren die in publizistischer Hinsicht zentralen Abonnementszeitungen bezüglich Auflagen, Nutzung und Einnahmen deutlich an Terrain und die redaktionellen Ressourcen schwinden. Gleichzeitig hat die Gratiskultur mit den Onlinemedien und den Pendlerzeitungen auf Seiten der Konsumenten das Kostenbewusstsein für professionellen Journalismus zerstört. Dies unterminiert die Qualität der Informationsmedien, befördert den Konzentrationsprozess, schwächt das Berufsprestige und erhöht die Unzufriedenheit unter den Journalisten. Ausserdem ergeben sich durch das Qualitätsgefälle zwischen schwindenden Bezahl- und wachsenden Gratismedien unterschiedliche Aufmerksamkeitslandschaften für die entsprechenden Publikumsgruppen. Durch diese Entwicklungen wird der wichtigste Service Public in der Demokratie geschwächt: Denn die Qualität der demokratischen Auseinandersetzung ist von den Vermittlungsleistungen der Informationsmedien abhängig.
Qualitätsschwache Medien im Vormarsch
Die publizistische Versorgung durch qualitätsschwache Gratismedien Online wie Offline hat in der Schweiz markant zugenommen, während die Kaufpresse in einer grundsätzlichen Finanzierungskrise steckt. Die Nutzung von Gratiszeitungen und Onlinemedien wird im Vergleich zur Abonnementspresse, sowie dem öffentlichem Radio und Fernsehen weiter zunehmen, da vor allem jüngere Altersgruppen zwischen 15 und 34 in einer Gratiskultur sozialisiert wurden, in der das Episodische und der Human Interest ein ungleich höheres Gewicht hat. Dies gilt gerade auch für die Online-Newssites, die von der Reputation der Medientitel leben, aber nicht über genügende Ressourcen verfügen, um journalistischen Qualitätsanforderungen zu genügen.
Minarettinitiative: Form statt Inhalt
Dass der Qualitätsverlust der Medien in der Schweiz negative Folgen für die Qualität demokratischer Diskurse zeitigt, wurde unter anderem in der Vertiefungsstudie zur Minarettinitiative deutlich. Auffallend ist die Ungleichvertretung zwischen den das Verbot befürwortenden Parteien (drei Viertel der Parteienresonanz) und den ablehnenden Parteien (ein Viertel der
Parteienresonanz). Damit kehren sich in der Medienberichterstattung die Mehrheitsverhältnisse im Parlament exakt um. PR-Aktionen wie das Minarettplakat oder das Minarettspiel erreichen intensive mediale Beachtung. Entsprechend ist die Diskussion stark durch eine Fokussierung auf Formfragen (Stil, Tabubrüche) anstatt auf Inhalte charakterisiert.
Wachsende Binnenorientierung auf Kosten der Auslandberichterstattung
Ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung und zum Zeitpunkt der globalen Wirtschaftskrise schwindet die Weltbeobachtung zugunsten einer Bedeutungsaufwertung des Nationalen und vor allem des Regionalen. Die Binnenorientierung der schweizerischen Medien auf Kosten der Auslandsberichterstattung hat im Zeitverlauf bemerkenswert zugenommen. Die öffentlichen Rundfunkprogramme, vor allem das Radio, sowie die überregionalen Abonnementszeitungen tragen noch am meisten zu einer relevanten Auslandsberichterstattung bei. Allerdings ist auch hier die in der schweizerischen Publizistik traditionsreiche intensive Beobachtung des Weltgeschehens aus drei Sprachräumen heraus deutlich kleiner geworden.
Die neuen Medien – Gratiszeitungen und die Newssites –, jedoch auch die Privatradios und viele Abonnementszeitungen reduzieren die Welt auf Agenturmeldungen. Nutzergruppen, die diese Medien konsumieren, nehmen eine Welt jenseits der Schweiz zur Kenntnis, die nur noch aus einer Abfolge von Krisen, Kriegen, Katastrophen und Affären besteht. Bei der regionalen Orientierung im privaten Rundfunk und auch bei der regionalen Abonnementspresse ist darüber hinaus eine journalistische Orientierung festzustellen, die dem Human Interest und dem Sport im Vergleich überdimensionale Bedeutung verleiht.
Finanzkrise: Versagen der seismographischen Funktion
Die seismografische Funktion, frühzeitig vor der Finanzmarktkrise zu warnen, wurde von der Wirtschaftsberichterstattung nicht erfüllt. Die Krise wurde erst sehr spät, d.h. seit der zweiten Hälfte 2007 erkannt. Erst dann fand eine intensive Inflation der Krisenthematisierung statt, die jedoch nach den ersten positiven Quartalsabschlüssen im Finanzsektor einer noch rascheren Deflation der Berichterstattung weicht, obwohl grundlegende Probleme nicht gelöst sind. Schuld daran ist nicht zuletzt der Wechsel von einer an gesamtgesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Belangen interessierten Wirtschaftsberichterstattung zu einer Fokussierung von einzelnen Unternehmen, ihrer Performance und ihrem Führungspersonal seit den 1990er Jahren. Der Wirtschaftsjournalismus hat sich auf Quartalsabschlüsse geeicht und übergreifende Entwicklungen aus dem Blick verloren.
Untersuchungsanlage: Publizistische Versorgung und inhaltliche Qualitätsvalidierung
Diese Untersuchung der Qualität der Medien vollzieht sich auf zwei Ebenen. Erstens wird die publizistische Versorgung, d.h. die Nutzung, die Abdeckung, die Einnahmen und die Besitzverhältnisse der Informationsmedien in der Schweiz, untersucht. Im Jahre 2009 handelte es sich hierbei um 137 Medientitel. Zweitens werden die bedeutendsten Titel aller Mediengattungen (Presse, Radio, Fernsehen, Online) einer inhaltlichen Qualitätsvalidierung unterzogen. Dies betrifft ein Teilsample der 46 bedeutendsten Medientitel der Mediengattungen Presse, Radio, Fernsehen und Online in den drei grossen Sprachregionen der Schweiz.

Jahrbuch 2010: Qualität der Medien − Schweiz Suisse Svizzera
Wozu dieses Jahrbuch? Das Ziel dieses Jahrbuchs ist die Stärkung des Qualitätsbewusstseins für die Medien. Das Jahrbuch bildet eine Quelle für Medienschaffende, Akteure aus Politik und Wirtschaft, die Wissenschaft und für alle Interessierte, die sich mit der Entwicklung der Medien und ihren Inhalten auseinandersetzen. Anstoss für dieses Jahrbuch bildet die Einsicht, dass die Qualität der Demokratie von der Qualität der medienvermittelten öffentlichen Kommunikation abhängt. Das Jahrbuch will einen Beitrag dazu beisteuern, dass die Qualität der Medien ein wichtiges Thema öffentlicher Kommunikation ist.
Wer zeichnet für dieses Jahrbuch verantwortlich? Das Jahrbuch wird erarbeitet und herausgegeben durch den fög – Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft/Universität Zürich (www.foeg.uzh.ch). Folgende Autoren sind am Jahrbuch beteiligt (in alphabetischer Reihenfolge): Seyhan Bayraktar, Pascal Bürgis, Urs Christen, Mark Eisenegger, Patrik Ettinger, Kurt Imhof, Esther Kamber, Jens Lucht, Jörg Schneider, Mario Schranz, Linards Udris.
Es wird gefördert durch die Stiftung Öffentlichkeit und Gesellschaft (www.oeffentlichkeit.ch). Der Stiftungsrat setzt sich zusammen aus: Christine Egerszegi-Obrist, Gabriele M. Paltzer-Lang, Kurt Imhof, Yves Kugelmann, Oswald Sigg, Roger de Weck (bis Juni 2010).
Wer finanziert und unterstützt dieses Jahrbuch? Die Finanzierung für das Jahrbuch wird durch die gemeinnützige Stiftung Öffentlichkeit und Gesellschaft (www.oeffentlichkeit.ch) eingebracht. Die Stiftung verdankt die Mittel für das Projekt insbesondere folgenden Donatoren (in alphabetischer Reihenfolge): Allreal Holding AG, Anne Frank Fonds, Credit Suisse Foundation, Paul Schiller Stiftung, Prof. Otto Beisheim Stiftung, der Schweizerischen Mobiliar Versicherungsgesellschaft AG, der Schweizerischen Post, Stiftung für Gesellschaft, Kultur und Presse, Schweiz, Stiftung Qualitätsjournalismus Ostschweiz, Swiss Re, Vontobel-Stiftung, Zürcher Kantonalbank und verschiedenen Einzeldonatoren.
Wo wird dieses Jahrbuch publiziert? Das Jahrbuch erscheint im Schwabe Verlag (ISBN 978-3-7965-2688-6). Die Resultate können zusätzlich im Internet abgerufen werden (www.qualitaet-der-medien.ch). Auf dieser Plattform publiziert der fög regelmässig ergänzende Untersuchungen.